Die Entstehung der modernen Schweiz 1848 ist ein Politthriller erster Klasse

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Da Im Jahre 2023 die Schweiz 175 Jahre moderner Bundesstaat feierte, habe ich zur Entstehungsgeschichte der Bundesverfassung von 1848 gelesen. Diese wurde innerhalb von nur rund eineinhalb Monaten zwischen Ende Februar und Anfang April 1848 erarbeitet durch die Bundesrevisionskommission. Diese bestand aus einem Vertreter pro Kanton. Danach wurde der Entwurf durch die Tagsatzung beraten und leicht abgeändert (z.B. sieben statt die von der Kommission vorgeschlagenen fünf Bundesräte) und musste danach durch die kantonalen Parlamente und kantonalen Volksabstimmungen während der Sommermonate. Die Tagsatzung setzte die neue Bundesverfassung am 12. September in Kraft und löste sich wenig später auf. Im Oktober 1848 fanden die ersten Nationalratswahlen statt. Der Nationalrat (mit damals noch 111 Mitgliedern) trat Anfang November zum ersten Mal zusammen. Der Bundesrat wurde am 16. November gewählt und trat vollzählig erstmals am 27. November 1848 zusammen.

Wer hätte im Frühling 1845, nach dem gescheiterten zweiten Freischarenzug gegen den konservativen Sonderbund, geglaubt, dass der Wandel von einem Staatenbund souveräner Kantone hin zu einem Bundesstaat sich so rasch vollziehen würde?

Beim Lesen zur Arbeit der Bundesrevisionskommission stiess ich immer wieder Heiteres, aber auch Überraschendes, und vor allem immer wieder auf Menschliches. Unten folgen deshalb einige humorvolle Müsterchen aus dem Buch «Stunde Null» von Rolf Holenstein (Quellenangabe siehe am Ende dieses Blogs). Fette Markierungen sind von mir.

Samstag, 19. Februar 1848

Der Waadtländer Vertreter (und spätere Bundesrat) Henri Druey will Souveränität alleine auf die Nation abstellen, nicht mehr auf die Kantone, und überrascht damit die Kommission.

Der Zürcher Vertreter (und spätere Bundesrat) Jonas Furrer stemmt sich dagegen, gemäss Frey-Herosés Notizen kritisiert er diesen Vorschlag als wolle man «a priori ein Projekt ins Blaue hinaus gleich in der ersten Sitzung festsetzen …». Man solle zuerst «über die Folgen meditiren (sic!). Sonst fährt man mit einer Stange im Nebel herum». Man soll lieber analytisch-praktisch vorgehen.

Der Solothurner Vertreter (und spätere Bundesrat) Josef Munzinger kommentiert, ebenfalls gemäss Frey-Herosés Notizen: «Es war vorauszusehen, dass er am ersten Tag kraus gehe.». Furrer selbst notiert kurz, «Folgt ein Zank über die Ordnungsmotion von Zürich», während Frey-Herosé ausführlicher berichtet von den Worten Drueys, welcher «fulminiert» sei und «verbittet sich Ordnungsmotionen, Verwerfungen ohne Prüfung; will heimreisen, nicht Redaktor sein, wenn man so zu Werke gehen will». Worauf Furrer entgegnet haben soll: «Verbittet sich auch ein Anpredigen, das auf Missverständnissen beruht».

Der Glarner Vertreter Caspar Jenny notierte: «Druey ist über die Bemerkungen von Furrer höchst erbittert und sagt, von einem Zürcherprofessor lasse er sich nichts vorschreiben».

Giacomo Luvini aus dem Tessin ist ebenfalls skeptisch über rein nationale Wahlcollegien und fürchtet (gemäss Frey-Herosés Notizen), dass «Tessin, das müsste mit Uri zusammengehen und würde wahrscheinlich oft einen Papisten auf die Tagsatzung schiken (sic!)»(,da Uri sehr katholisch ist). (Seiten 487-497)

Dienstag, 22. Februar 1848

Über die Garantie der Kantonsverfassungen wird lange diskutiert. Der Aargauer Vertreter (und spätere Bundesrat) Friedrich Frey-Herosé scheint den langen Ausführungen müde zu sein, wenn er ein Statement des Genfers Rilliet-de Constant mit «Lirum, larum, Gewäsch. Die Wahrheit ist immer zu achten.» (Seite 519) kommentiert! Wie heiter das Menschliche in der Politik über trockene Verfassungskunde doch manchmal sein kann.:-)

Wenig später räsoniert derselbe Genfer Louis Rilliet-de Constant, weiterhin gemäss Frey-Herosés Notizen, «Schüze man jezt das Volk [sic!]. Man aristokratisirt sich gar leicht im Weihrauch der Gewalt.» (Seiten 520-521). Wie sinnig!

Mittwoch, 23. Februar 1848

Der Berner Vertreter und spätere Bundesrat Ulrich Ochsenbein war einer der wichtigsten Treiber der Formung des modernen Schweizer Bundesstaats und präsidiert die Bundesrevisionskommission. Jedoch scheinen noch nicht alle Kommissionsmitglieder die Namen der jeweiligen Mitglieder zu kennen. So kommt es nach fünf Tagen Beratung, dass der Stadt-Basler Johann Georg Fürstenberger einen Antrag stellt, veranlasst durch die «Schönbeinische Motion» (Seite 531). Dabei sollte dem lieben Basler Vertreter klar sein, dass der Kommissionspräsident Ochsenbein und nicht Schönbein heisst.

Donnerstag, 24. Februar 1848

Während der Debatte über die Pressefreiheit sind einige Vertreter eher konservativer Kantone besorgt, dass diese nicht in «Pressefrechheit» (der Freiburger Bussard, gemäss den Notizen von Frey-Herosé) ausarte. Der Urner Franz Jauch möchte denn auch Ausnahmen machen, was wiederum den Zürcher Furrer verärgert. Frey Herosé notiert, Furrer habe «allemal einen Kapitalärger, wenn religiöse und sittliche Grundsätze vorzüglich von einzelnen Kantonen in Anspruch genommen werden. Glaubt man, andere Kantone seien nicht auch religiös und sittlich? …».

Furrer selbst notierte, «Furrer wascht ihm den Kopf, über die Manier, einzelne Kantone vorzugsweise…» (Seite 543)

Bei der Diskussion um die Niederlassungsfreiheit gab es Sorgen, dass gerade in den Grenzstädten Basel und Genf viele unerwünschte Personen kommen würden.

Der Basler Fürstenberger meinte, gemäss Frey-Herosé, «Eine Abwehr von nicht erwerbsfähigen Leuten auf polizeylichem Weg muss erlaubt seyn. […] Allein alle Lumpen und Schlingel von Elsässern kommen…»

(Seite 545)

Während einige wie Ochsenbein und Frey-Herosé sich für uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit aussprechen, haben andere, u.a. Vertreter der katholischen, kleinen Kantone grosse Vorbehalte. Druey vom Kanton Waadt kommentiert (gemäss Protokoll von Furrer), dass ein Vertrag zum Thema mit Frankreich die Thematik zusätzlich verkompliziere: «Die Schwierigkeit ist immer der französische Vertrag. Denn es kommt von Frankreich ein bedenkliches Publicum in die Schweiz. […] Am Ende bekommen wir noch mit den Eisenbahnen eine Völkerwanderung auf den Hals.» (kursiv: Hervorhebung vermutlich im Original, Seite 548)

Nach einem Vorschlag von Druey kommentiert Frey Herosé (gemäss Protokoll Furrer) diesen so: «der Antrag von Waadt ist auch nicht billig; […]. Der Erfolg würde seyn, dass eine Überfüllung wohlhabender Gemeinden und eine Vermischung der Gemeindegüter zur Folge haben [korrekt: eintreten würden]. Das «Theilet, ihr Löhli» in der Vignette des «Gukkastens» gehört hieher und findet die praktische Anwendung. Man soll daher nicht auf solche Weise in die Gemeindeverhältnisse eingreifen.» (Seite 558)

Mittwoch, 1. März 1848

Die Stossrichtung ist klar, das Postwesen soll zentralisiert werden. Dennoch stellen sich Fragen, u.a. bez. Entschädigung der Kantone, kantonale Konkordate und internationale Verträge. Kantone würden sich offenbar konkurrenzieren.

Gemäss Protokoll Furrer kommentiert der spätere Bundesrat Josef Munzinger: «Ich suche die Finanzen in einer besseren Administration; man hat erfahren, dass bey der Post 2 x 2 nicht immer 4 sind, dass 4 Btz. [Adrian Ineichen: Batzen] oft mehr als 6 Btz. sind. Dann kommt das Misstrauen. Wenn einmal die Kantone sich nicht mehr befehden, so wird gewiss auch die Eidgenossenschaft allg. anerkannte Grundsätze aufnehmen.»

Das Protokoll von Frey-Herosé schreibt Munzinger noch diesen Satz hinzu: «Daher vereinfache man die Sache, dann geht’s besser. Das Postwesen wird bald behandelt wie die ägyptischen Priester ihre Mysterien behandelten!»

(Seite 598)

Montag, 6. März 1848

Wie am 3. März, geht es nun ums politische System: Beibehaltung der Tagsatzung als lockerer Staatenbund souveräner Kantone? Einkammerparlament auf nationaler Stufe und sogar Einheitsstaat unter Abschaffung der Kantone? Zweikammersystem mit eidg. Wahlkreisen für den eidg. Rat, der die eidgenössischen Themen beschliesst, während die Tagsatzung die kantonalen Themen beschlösse? Gemeinsame Sitzungen beider Räte oder nicht? Gemeinsame Beschlüsse?

Die kleinen Kantone wollen lieber nichts ändern, da sie einen Machtverlust befürchten. Die Diskussion scheint bisweilen hitzig gewesen zu sein.

Der Urner Vertreter Franz Jauch, der dem später beschlossenen Zweikammersystem noch zustimmen wird, redet sich offensichtlich in der Diskussion in Rage gegen Aristokratie, verteidigt die kleinen Kantone und ihre Interessen. Gemäss Notizen von Frey-Herosé: «Wir dulden keine Schärensch[leifer]. – Wird grob.- » (Seite 640)

Am selben Tag verteidigt Caspar Jenny, der Vertreter Glarus’ die Verdienste und Loyalität seines Kantons in derart salbungsvollen Worten, dass Frey-Herosé dessen Statement mit wenigen Zeilen abkürzt «Was ist möglich, was können wir durchführen? Vivat Glaris. Warum Misstrauen gegen die kl. Kantone?» (Seite 648)

Der spätere Bundesrat Ochsenbein favorisiert ein Zweikammersystem und erhöht den Druck, angesichts der unterschiedlichsten Positionen, gemäss Protokoll Furrer: «Will man unserer Ideen keine Folge geben, so bleibt die Sache im Alten, und wir wollen alles lieber aufgeben. Bey dieser Sachlage werden die kleinen Kantone immer den Pfaffen preisgegeben seyn, und Österreich wird sie stets unter sich haben.» Ochsenbein meint damit den starken Einfluss des katholischen Klerus, insbesondere in der Zentralschweiz. (Seite 650)

Dienstag, 7. März 1848 – High noon zur Frage der Gestaltung des künftigen Parlaments

Die Diskussion um die Gestaltung der künftigen nationalen politischen Institutionen geht weiter. Der Genfer Vertreter Rilliet-de Constant schwenkt ein als Fürsprecher des amerikanischen Zweikammernsystems und spricht sich gegen den Vorschlag vom Waadtländer Druey aus, «gegen das Veto oder die Sanktion der Kantone und […]. (Schwatzt noch sehr viel, aber man weiss nicht, wo hinaus.)» (gemäss Protokoll Furrer) (Seite 656)

Der Berner Vertreter und Kommissionspräsident Ochsenbein reagiert offenbar gereizt auf Kritik an seinem Vorschlag (zwei Parlamentskammern mit einer bestimmten Separation der Zuständigkeiten), welche insbesondere durch Munzinger geäussert wird. Frey-Herosé notiert zum Statement von Ochsenbein: «Zur Ausscheidung der Geschäfte mache man ein Kompetenzgericht. – Lange Rede. Herr Munzinger – Herr Ochsenbein zwiken einander, ob man heute über Grundsätze abstimmen wolle oder nicht […] Präsident will absolut abstimmen lassen, damit die Commission einen Leitfaden habe.» (Seite 660)

Der Luzerner Steiger meint gemäss Furrer: «Wir kommen durch Animosität fast auf Abwege. […] Über diese Frage kann man gewiss jetzt abstimmen, und dann hat die Commission eine hinreichende Basis.» (Seite 661)

Gemäss Notizen von Frey-Herosé endet die Sitzung gereizt: «Verwahrung und Protestation des Herrn Michel – Trost – Saturn – Hitze – Öffentlichkeit der Verhandlungen beantragt – warum? Um die Leute in Ruhe und Ordnung zu halten? – 1 Stimme. – Sind wir überhaupt kapabel fortzufahren? – Grosser Verdruss einerseits. – Der Vorhang fällt.» (Landamman Alois Michel war Vertreter von Obwalden, Seite 663)

Viele Kommissionsmitglieder senden immer wieder Berichte und Kommentare an ihre Kantonsregierungen über den Stand der Beratungen der Bundesrevisionskommission. Nach dem 7. März spiegelt sich der schwierige Stand darin:

Melchior Diethelm, Vertreter von Schwyz: «Der erste Tag erfüllte mich mit vieler Hoffnung; die feste Haltung, die Munzinger zu Gunsten der kl. Kantone annahm war erfreulich; […]

Allein schon am 2ten Tag folgte Hitze in der Discussion. Fatalerweise liessen sich Uri und Obwalden auf höchst unkluge Art vernehmen – und diess spannte die Saiten alsbald höher. […]

Ochsenbeins Antrag schlau darauf berechnet war, den Kantonen, und nammentlich den kleinen, eine Alternative zu setzen, um dann auf einmal erklären zu können, nun wir haben Euch alles geben wollen, was Euch historisch rechtlich gebührt, allein Ihr wollt mehr als diess, deshalb brechen wir ab.[…]

Selbst Furrer fing an, das Feld zu räumen [Adrian Ineichen: zugunsten eines Zweikammerparlaments]; nur Munzinger und die Örtli [!] blieben fest – die Gereiztheit zwischen ersterm und Ochsenbein stieg mit jedem Augenblik. Statt nun diese Blitze schiessen zu lassen, und etwas kaltblütig den Zuschauer zu bilden, stiess Uri ins alte Horn – und alsbald wurden auch die Bessern wankelmüthig. […] Ich beobachtete das Wetterleuchten.»

(Seite 666)

Samstag, 11. März 1848 – Zölle

Neben den politischen Institutionen war die Abschaffung der bisherigen Binnenzölle und damit die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums, Grenzzölle und Consumogebühren und Entschädigung der Kantone eine zweite grosse Knacknuss in der Kommission, deren Beratung mehrere Tage beanspruchte.

In der Diskussion lamentierte der Glarner Jenny, gemäss seinen eigenen Notizen: «Von Havre bis Basel werde kein Kreuzer Transitgebühr entrichtet. Tritt aber die Waare in den Kreis der verbündeten Kantone, so wimmle es von obligatorischen Kaufhausgebühren, Zöllen, Weg- und Brükengeldern.» (Seite 676)

In den Beratungen gab es einerseits die Idee, die Kantone für die Abschaffung ihrer Zölle zu entschädigen, als Variante mit der Erhöhung von sogenannten Consumogebühren (wohl eine Art indirekte Steuer auf den Konsum).

Der Basellandschäftler Karl Spitteler kommentierte gemäss Furrer einmal: «Dann giebt man den Kantonen – zwar genauer diejenigen, welche bis dahin die totale Abschaffung aller Consumogebühren verlangten – den naiven Rath, «man möge sich durch Einführung resp. Erhöhung von Consumogebühren entschädigen». Das ist mit andern Worten nichts gesagt als: «Die Kantone mögen schauen, wo sie’s wiederum nehmen».»

(Seite 686)

Freitag, 17. März 1848: Zölle

Nachdem ein Vorschlag durchkam, die Kantone mit einem pauschalen Batzen pro Kopf zu entschädigen für die Abschaffung der Binnenzölle, geht die Diskussion weiter.

Der Glarner Jenny meint gemäss Protokoll Furrer: «in Ganzen ist die Sache die, dass viele Kantone eine Art Wegelagerungssystem haben, während die andern ihre Strassen aus Vermögenssteuern, i.e. aus ihrem Sack, bauten.»

Frey-Herosé notiert zum selben Statement von Jenny u.a. folgendes: «Contra Stadtbasel, das ungeheure Zölle bezieht […]. Von Amsterdam bis Basel kostets nichts. Erst Basel fängt an zu melken. Und solche Stände widersetzen sich dann am meisten jeder Zollregulirung […]. Den Transit muss man erleichtern.» (Seite 709)

Wenig später kommentiert Munzinger gemäss Protokoll Furrer: «Die Berechnung betreffend Bündten [Adrian Ineichen: gemeint ist Graubünden] anerkenne ich nicht, weil dort Gebühren sind, welche die Tagsatzung nie genehmigte».

Es scheint, dass (schon) damals gewisse Kantone sich nicht immer ans Recht hielten. (Seite 711)

Kurz darauf rechtfertigt Jenny, gemäss Furrer, «seinen Ausdruk Piratensystem» (Seite 713)

Montag, 20. März 1848: Wieder die Frage des Parlamentssystems

Der Luzerner Steiger spricht sich gegen ein Zweikammer-System aus und meint, gemäss Protokoll Furrer: «Man hat auch der Tagsatzung vorgeworfen, dass sie nichts nütze, weil sie oft nichts herausbringe. Das gleiche wird herauskommen, wenn nun zwey Behörden existieren; und zudem würden enorme Kosten entstehen […].» (Seite 735)

Es geht auch darum, wieviele Mitglieder der Nationalrat haben soll, z.B. ein Repräsentant auf 20’000 oder 30’000 (oder sonst eine Zahl) Einwohner.

Gemäss Notizen von Jenny bekräftigte Furrer, «er wohne auch nicht in einem Hottentottenlande, das nicht im Stande sei, genugsam Leute in diese Behörde aufzubringen.». Furrer selbst notierte später, er weise «entschieden den Vorwurf zurük, als ob seyn Antrag die Einführung eines Herrenhauses bezwecke.» (Seiten 741/742)

Mittwoch, 22. März 1848: Kompetenzen des Parlaments

Die Frage ist, ob ein Verquickungssystem, d.h. Kompetenzausscheidung zwischen Nationalrat und Tagsatzung möglich ist und ob die Kantonsvertreter Instruktionen (wie bisher als Vertreter der Kantone in der Tagsatzung) erhalten sollen.

Der St. Galler Wilhelm Mathias Naeff, gemäss Furrer, meint: «Die Eintheilung der Geschäfte wird schon anstössig seyn […]. Ferner hat man keinen Grund, die 25 Abgeordneten der Kantone als reine Kantönlimänner zu bezeichnen. Wo waren jetzt die Übelstände? […].» (Seiten 770-771)

Melchior Diethelm bricht später in der Diskussion mit seinem Vorschlag die Lanze fürs amerikanische Zweikammernsystem.

Die Diskussionen verliefen mit einigen Wendungen und Wirrungen. In seinem Bericht an die Ausserrhödler Regierung kommentiert deren Vertreter Johann Konrad Oertli: «Bei Art. 24 stehen wir also wieder am Anfang. Die Commission scheint wirklich in einem Kreis zu gehen […]. Kaum glaube ich, dass einer eine feste Meinung hat […]. Hr. Furrer hat vor zwei Tagen das Zweikammersystem vertheidigt, über das er früher nicht ärger hätte losziehen können […]. Heute Abend schon sagte mir aber Hr. Druey, dass er wieder auf seine Wahlkreise zurückkommen werde. – Auf ein Haar hätten wir heute die halben Stände zu ganzen erhoben […].» (Seite 777)

Donnerstag, 23. März 1848: Konvergenz zum Zweikammernsystem nach Vorbild der USA

Offenbar liefen im Nachgang zur Sitzung des Vortages am Abend noch diverse Gespräche, wo ein breiter Kompromiss gefunden wurde, in Form des Zweikammernsystems der USA.

Der St. Galler Naeff, der lange Vorbehalte hegte, kommentiert an der Sitzung denn auch, gemäss Protokoll Furrer: «Über das System der 2 Kammern ist mir ein Licht aufgegangen. […] Allein man muss eben die jetzigen Ideen von Wahlen, Instruktionen, Behandlungsart etc. bey Seite legen. […] und geht die Sache nicht, so ists wie bisher; pressierts, so werden die Behörden gewisse Beine bekommen.» (Seite 784)

Druey von Waadt bleibt wie Furrer skeptisch und will an seinem Vorschlag festhalten, allenfalls ein Einkammerparlament und erst als 3. Option das Zweikammersystem. Er sei «nicht so beweglich wie andere, denen über Nacht ein ganz anderes Licht aufgegangen sei.» (gemäss Protokoll Sarasin, Seite 786)

In den Berichten schreibt der Luzerner Steiger, der sich nun fürs Zweikammersystem ausspricht, «Auch die grosse Ruhe, deren sich die Nordamerikanischen Freistaaten seit 60 Jahren erfreuen, scheint für die Zweckmässigkeit des Systems zu sprechen.» (Seite 789)

Der St. Galler Naeff schrieb: «Nach der Sitzung dauerte aber die Berathung unter Einzelnen immer noch fort, besonders Abends «auf der Schmieden» […]. Dass aber die eidgenössischen Angelegenheiten zweimal überlegt u. nicht durch eine einzige lebendige, leicht bewegliche Behörde überstürzt werden können, ist eher ein Vorzug als ein Nachtheil.» (Seite 789)

Louis Wyrsch aus Nidwalden schrieb: «Nachdem man sich gegenseitig bis zur Erbitterung über den obgenannten Gegenstand gebalgt hatte & auf einmal jeder zu dem Zwei Kamer Sistem sich hingerissen fühlte, so verwunderte sich jeder über das plözliche Übereinstimmen […].» (Seite 790)

Freitag, 24. März 1848

Furrer, wie Druey, war am Vortag so überrollt vom «Zweykammersystem […] nach 5tägigen Debatten, worin es fast nie besprochen worden […], so dass ich dermassen consternirt war, dass ich nicht mehr weiss, wie ich in der Frage der Halbkantone stimmte.» (Seite 792)

Der Tessiner Offizier Luvini wollte Wählbarkeitsrestriktionen: «den Ausschluss der Pfaffen im Repräsentantenrath, nicht bloss im Bundesrat.» (Seite 798)

Der Basler Sarasin schrieb in seinem Bericht «Dass die Gleichberechtigung der Halbkantone [Adrian Ineichen: im Parlament] wieder würde zurückgenommen werden, war mir nicht unerwartet, denn es hat sich gestern gleich nach der Sitzung ein gewaltiger Unwillen darüber Luft gemacht.» Seite 806)

Donnerstag, 30. März 1848

Es geht um den Feinschliff und die nächsten Schritte. Dabei kommen teils wieder alte Themen hoch.

Druey wünscht eine öffentliche Beratung des Entwurfs der Bundesverfassung in der Tagsatzung. Zudem will er offenbar Frankreich (das gerade eine Revolution erlebt hat diesen Frühling) diplomatisch anerkennen. Diethelm spricht sich gegen eine Beratung in der Tagsatzung aus und eine direkte Diskussion in den Kantonen.

Der Schaffhauser Johann Georg Böschenstein kommentiert kurz darauf, gemäss Protokoll Furrer: «Die Haare stehen mir zu Berge bey solchen Anträgen. Wir sind dem Grossen Rath Bericht über unser Mandat schuldig.» (Seite 828)

Wenig später kommt Ochsenbein wieder auf Ausschlusskriterien, d.h. gemäss Protokoll Furrer «dass man weltlichen Standes seyn müsse, um in [den] Repräsentantenrath gewählt zu werden. […] Ich will lieber, dass die Bundesrevision verworfen werde, als dass die Geistlichen Zutritt erhalten.» (Gemeint ist wählbar für Bundesrat und Parlament) (Seite 828)

Druey bringt wiederum eines seiner Steckenpferde und, gemäss Protokoll Furrer, «stellt den Antrag, dass man vorn Bundes wegen den Grundsatz aufstelle, alle Klöster in der Schweiz sollen aufgehoben werden.» (Seite 829)

Dies wird vom Tessiner Luvini und fünf anderen unterstützt, während die Mehrheit meint, dieses heikle Thema soll nicht mehr aufgewärmt werden. Der Schaffhauser Böschenstein meint (gemäss Protokoll Furrer), lasse «man jeden Kanton mit seinen Klöstern machen, was er will. Was weiter geht, ist aus dem Bösen. Viele Kantone würden bedeuten verletzt werden.» (Seite 830)

Mittwoch, 5. April 1848: letzte Details

Bis dahin gibt es unterschiedliche Vorstellungen der Namen der künftigen nationalen politischen Institutionen. Nationalrath gewinnt als Begriff gegenüber anderen Ideen wie Volkskammer und Ständerath. Dazwischen meint der Solothurner Munzinger, gemäss Protokoll Furrer: «Das französische Chambre heisst Zimmer, man hat es schlecht mit Kammer übersetzt. Dies ist bey uns ein Ort, wo man keine honetten Menschen einlogirt; man hat Schnitzkammern, Plunderkammern usw.» (Seite 867)

Die Meinungen zum Entwurf der neuen Bundesverfassung waren gemischt. Während die kleinen Kantone teils glücklich über Besitzstandwahrung (im neuen Ständerat) waren, dachte Furrer, dass der Kanton Zürich «in allen materiellen Fragen unterlegen» war (Seite 908). Dennoch würde er genehmigen, da er viele Fortschritte erkennt. Bezüglich der Behandlung Zollthematik in der Tagsatzung im Mai 1848 kommentiert Furrer: «Es zeigte sich deutlich, dass eine Hand die andre gewaschen hat u dass die Gesandten schon eine Menge neuer Strassen- u Brükenzölle im Auge hatten u es ist unzweifelhaft, dass wir in 10 Jahren wieder eine Masse neuer Lasten der Art haben, nachdem wir alle die alten Sünden nun garantirt u auf Rechnung des Bundes übernommen haben […].» (Seite 908).

Quelle: Holenstein Rolf (2023, 2. A.). Stunde Null: Die Neuerfindung der Schweiz 1848. Die Privatprotokolle und Geheimberichte. Basel: Echtzeit Verlag

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